Kapitel 2

 

Nuron

 

 

Lautlos schob Nuron Dornell sich durch den Türspalt auf den Gang hinaus. Ihm stockte der Atem, als die massive Holztür leise in den Angeln knarrte. Ein Kribbeln lief über seinen Nacken und er hielt inne. Angespannt lauschte er die Stimmen der Erwachsenen im Nebenraum, die miteinander sprachen. Man brauchte die Worte nicht verstehen um herauszuhören, wie aufgebracht die Frau war. Daneben erklang die Stimme seines Vaters, tief und volltönend, der sich bemühte, sie zu beruhigen. Vorsichtig zog der Achtjährige die Tür hinter sich ins Schloss. Links von ihm erstreckte sich ein langgezogener Korridor, an dessen Ende sich die Treppe befand, die in das unteren Stockwerk führte. Zu seiner Rechten, setzte sich der Flur zu einem Rundgang fort, der an den Gemächern der königlichen Familie vorbeiführte. Unschlüssig blickte Nuron erst in die eine, dann in die andere Richtung. Im Grunde war es gleich, in welche Richtung er ging. Der Weg in das Erdgeschoss würde ihn unweigerlich an den beiden Wachen vorbeiführen, die am Absatz der Treppe postiert waren. Es war unmöglich, sich unbemerkt an ihnen vorbei zu schleichen. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass ein Unterschied darin lag, ob man bemerkt wurde oder Aufmerksamkeit erregte. Tapfer holte er tief Luft und straffte seinen Rücken. Ein gemächliches Tempo anschlagend, ging er den Flur links hinunter. Die schweren Läufer dämpften das Geräusch seiner Ledersohlen und er versank bei jedem Schritt leicht in dem hohen Flor. Er streckte seinen Arm aus, strich im Gehen mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche der dunkelgrauen Felsblöcke, aus denen die alte Wasserburg erbaut worden war. Ebenso, wie es ein Junge tat, der sich langweilte oder wie ein Junge, von dem man glauben sollte, dass er sich langweilte, der jedoch etwas im Schilde führte. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in seinem Nacken aus, während er neben den kleinen Petroleumlampen herging, die den engen Gang beleuchteten. Es gab zwar auch kleine Fenster, die tief in die Steinquader eingelassen waren. Aber sie schienen nur vom Sonnenlicht leuchtende Rechtecke zu sein und reichten nicht aus, um das Gemäuer genügend zu erhellen.

 

 

Er erreichte die Soldaten, die die Stufen flankierten und schluckte schwer. Die Männer standen in ihren dunkelblauen, mit goldenen Litzen abgesetzten Uniformen unbeweglich da. An der Seite trug jeder einen Säbel an dem eine goldene Quaste baumelte. Das war eines der Merkmale, das sie als Mitglieder der persönlichen Leibgarde des Königs auswies. Mit starren Mienen schienen sie ins Nichts zu starren, doch Nuron wusste, dass ihrer Aufmerksamkeit keine Regung entging. Weder ihnen, noch den Wachposten an den Eingangstoren, die sich unter ihm in der Eingangshalle befanden. Er senkte den Kopf, konzentrierte sich auf die steinernen Treppen und huschte mit zwei beherzten Schritten an den Soldaten vorbei.

»Immer langsam, mein Freund! Wohin willst du so eilig?«

Die strenge Stimme ließ ihn zusammenzucken. Er erstarrte in der Bewegung, noch bevor er seinen Fuß auf die erste Stufe setzen konnte. Zögernd blickte er auf. Der feste Blick der Wache fing seinen auf, hielt ihn ebenso unerbittlich wie forschend fest. Nuron kam es vor, als könnte der Mann bis in seine Seele blicken. Schweiß sammelte sich auf seinen Handflächen. Unbewusst wischte er sie an seinen Hosen ab.

»Ich will nur nach draußen. Spielen. Mit Darolf und Resi. Sie warten auf mich. Damit wir spielen können«, stammelte er unbeholfen.

Seine Kehle war wie ausgedörrt. Jedes seiner Worte kratzte wie Schmirgelpapier in seinem Hals. Misstrauisch zog der Soldat eine Augenbraue hoch.

 

 

»Ihr wollt doch wohl niemandem dumme Streiche spielen?«, mischte der andere Soldat sich ein.

Ruckartig fuhr Nurons Kopf zu ihm herum. Seine Nackenhaare sträubten sich vor Nervosität.

»Nein!«, stieß er ängstlich hervor. »Wir wollen nur spielen. Auf den Wiesen vor der Burg.«

Die Worte sprudelten aus ihm hervor, noch bevor er über sie nachdenken konnte. Alles in ihm drängte danach, vorwärts zu stürmen, die Treppe hinab und zum Tor hinaus ins Freie, doch er konnte sich nicht bewegen. Die Blicke der Männer hielten ihn fest, als ob sie ihn mit ihren Händen gepackt hätten.

»Ich verspreche, dass wir artig sein werden«, fügte er kleinlaut hinzu.

Der Ausdruck in den Augen der Wachposten wurde weicher, als sie ein Schmunzeln unterdrückten. Der Erste räusperte sich umständlich.

»Na schön. Dann wollen wir dir heute noch einmal glauben und dich gehen lassen. Aber vergiss nicht: Keine Streiche! Du hast es uns geschworen.«

Nuron nickte übertrieben eifrig, erleichtert darüber, dass man ihn endlich gehen ließ. Er stürmte die Stufen hinab, auf das Tor zu.

»Musst du die Kinder immer erschrecken?“, hörte er den zweiten Soldaten fragen. „Der Junge ist ja bleich wie eine Wand geworden!“

Gönn mir den kleinen Spaß, wenn wir schon den ganzen Tag über nutzlos herumstehen müssen.“

 

 

Verärgert biss Nuron die Zähne zusammen. Er beschleunigte sein Tempo und rannte an den nächsten Wachposten vorbei, bevor diese ihn auch noch aufhalten konnten und er weitere Zeit verlor. Im Burghof stoppte er und sah sich rasch um. Bei den massiven steinernen Mauern nahm er eine Bewegung war. Ein zierliches Mädchen rannte die Stufen zum Wehrgang der Schlossmauer hinauf.

Meria!“, rief Nuron ihr zu. „Wo willst du hin? Deine Gouvernante sucht dich.“

Das Mädchen beachtete ihn nicht. Mit wehenden Locken stürmte sie voran und hielt erst inne, als sie bei den Zinnen angekommen war.

Dann kann sie auch etwas länger warten“, rief sie lachend. „Komm schon! Ich bleibe nicht ewig hier stehen.“

Wohin willst du gehen?“

Anstelle einer Antwort streckte sie ihm auffordernd ihre Hand entgegen. Hektisch sah Nuron sich um. Die Soldaten, die man hier postiert hatte, schienen sich nicht an der Anwesenheit der Prinzessin zu stören. Widerwillig setzte er sich in Bewegung und stieg die steinernen Treppen hinauf.

Dafür bekomme ich bestimmt eine Tracht Prügel“, murrte er halblaut.

 

 

Er ging langsam, erklomm bedächtig Stufe um Stufe, in der Hoffnung irgendjemand würde ihm zu Hilfe kommen und Meria zur Ordnung rufen. Die Prinzessin deutete ihm mit einem aufgeregten Lächeln, sich zu beeilen. Er setzte seine finsterste Minie auf, um ihr zu zeigen, was er von ihrem Vorhaben hielt. Sie ergriff seine Hand und zog ihn hinter sich her auf den alten Wehrturm zu. Die schwere Holztür knarrte bedenklich in den Angeln, als sie sie öffneten. Vor ihnen wand sich eine von Staub und Spinnweben bedeckte Treppe in die Höhe.

Du weisst, dass dieser Turm ist nicht sicher“, warnte Nuron sie eindringlich und versuchte sie zurück zu ziehen. „Man sagt, dass er einzustürzen droht.“

Das sagen die Soldaten nur, damit sich dort niemand herumtreibt.“

Wir sollten uns trotzdem davon fernhalten. Wenn dir etwas zustösst ...“

Meria sah ihn herausfordernd an und grinste.

Was soll mir schon geschehen, wenn du auf mich aufpasst?“

Schnell schob sie sich an ihm vorbei und lief die Stufen hinauf. Nuron überlegte, ob er nach den Wachen rufen sollte, doch es war ihm unangenehm ausgerechnet die Soldaten um Hilfe zu bitten, nur um den Übermut der Prinzessin zu stoppen. Resignierend seufzend folgte er ihr in das Halbdunkel hinein. Einzig, durch die schmalen Schießscharten drang ein wenig Licht in den Innenraum.

 

 

Meria stand bereits in dem kleinen Raum, über dem sich das von groben Holzbalken gestützte Schindeldach erhob. Neugierig sah sie sich um und drehte sich dabei um die eigene Achse. Sie trat an eine der kleinen glaslosen Fensteröffnungen und lachte begeistert auf.

Schau nur! Man kann sogar über den Fluss hinaus sehen und dort steht bereits das Luftschiff, mit dem wir morgen nach Hause zum Schloss fliegen werden.“

Energisch winkte sie Nuron näher zu treten. Er stellte sich dicht hinter sie und blickte über ihre Schulter. Vor ihnen erstreckte sich das ganze Tal. Dort lag die Wiese, auf der man den Zeppelin verankert hatte. Das Fluggerät war ganz in Blau und Schwarz, den Farben des Königshauses der Familie Sabray, gehalten. Auf der Außenhaut hob sich das Wappentier, ein silberner Greif, von dem dunklen Untergrund ab. Die Kinder beobachteten das Personal, das dort mit den Vorbereitungen beschäftigt war und aus der Entfernung nur aus winzigen Gestalten zu bestehen schien. Meria trat beiseite und ließ sich auf dem Boden nieder. Auffordernd klopfte sie auf die Stelle neben sich.

Setz dich zu mir“, sagte sie munter.

Wir sollten wirklich gehen“, ermahnte er sie.

Wohin gehen? Zu den Tanzstunden? Den Unterweisungen in höfischer Etikette? Davon habe ich die Nase voll. Ständig sagt man mir, was ich nicht darf und was alles ungehörig ist. Das ist nicht gerecht. Du, Resi und Darolf wisst gar nicht, wie gut ihr es habt! Ihr könnt euch frei bewegen und niemand schimpft mit euch, nur weil ihr nach dem falschen Löffel greift.“

 

 

Ungehalten verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund.

Nuron zögerte, gab ihr jedoch schließlich nach und ließ sich neben ihr im Schneidersitz nieder.

Was sollen wir nun tun?“, fragte er unbehaglich.

Ich weiß nicht.“ Meria legte den Kopf schief und dachte nach. „Erzähl mir das Märchen vom „Rattenkönig“. Das magst du doch auch.“

Sollte das nicht besser deine Governante übernehmen?“

Die ist jedoch nicht hier. Außerdem würde sie mich jetzt eher bestrafen, anstatt mir Geschichten zu erzählen. Jetzt mach schon. Vorher werde ich den Turm nicht verlassen!“

Also schön ...“ Nuron musste einsehen, dass er dem Starrsinn der Prinzessin nur wenig entgegensetzen konnte. Er räusperte sich umständlich. „Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die in einem kleinen Königreich lebte. Das Land war weder reich, noch sonderlich berühmt. Doch sie lebte dort glücklich im Kreise ihrer Untertanen. Eines Tages erschien jedoch ein gewaltiger Drache und zerstörte viele der Städte und Dörfer mit seinem Feuer. Er flog zum Königsschloss und verlangte die Prinzessin, damit er mit seinem Tun aufhörte. Der König zögerte, denn er wollte sein einziges Kind nicht diesem Untier überlassen. Doch die Prinzessin schlich sich heimlich aus dem Palast und ging zu dem Drachen, weil sie das Leid ihres Volkes nicht länger ertragen konnte.“

Meria schlang die Arme um seinen und legte ihre Wange gegen seine Schulter. Nuron neigte seinen Kopf leicht gegen ihren, spürte die Weichheit und die Wärme ihres Haares auf seiner Haut.

Erzähl weiter“, flüsterte sie, als sie sich dichter an ihn schmiegte.

Es gab keinen Grund zu flüstern, denn niemand hätte sie hier oben, umschlossen von den dicken Mauern, belauschen können. Der runde Raum hielt die Kinder geborgen in seiner Sicherheit. Trotzdem senkte er seine Stimme zu einem Raunen, das sie nur verstand, weil sie ihm so nahe war.

Der Drache nahm sie mit in seine dunkle Höhle, die hoch oben in den Bergen verborgen lag und hielt sie dort gefangen. Der König sandte seine tapfersten Krieger aus, um seine Tochter zu befreien, doch der Drache tötete einen nach dem anderen.“

Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie ihre Augen geschlossen hielt und ihm aufmerksam und gespannt zuhörte. Seit man ihn, Resi und Darolf als Spielgefährten für die Prinzessin ausgewählt hatte, war ein freundschaftliches Band zwischen den Kindern gewachsen und es fiel ihm immer schwerer Meria nicht wie eine Schwester zu betrachten.

 

 

Ihre Finger gruben sich leicht in den Ärmel seines Hemdes.

Der Rattenkönig hörte die Klagen des Königs und der Königin. Er beschloss, der Prinzessin zur Hilfe zu eilen. Rasch sammelte er sein Volk um sich und sie zogen in die Berge. Sie kämpften sich durch denn Schnee und den eisigen Wind, bis sie die Höhle gefunden hatten. Mutig trat der Rattenkönig dem Drachen gegenüber und verlangte die Befreiung der Prinzessin, doch der Drache lachte nur. „Du kleiner Nager erteilst mir keine Befehle! Sieh zu, dass du verschwindest, bevor ich dich brate und verspeise“, höhnte das Untier.“

Meria lächelte, als Nurons Jungenstimme den tiefen Ton der Drachenstimme annahm.

Da rief der Rattenkönig nach seinen Mannen. Das gesamte Rattenvolk stürmte in die Höhle, krabbelte über Boden und Wände. Sie stürzten sich gemeinsam auf den Drachen. Der brüllte und spie Feuer. Viele der Ratten wurden von den Flammen verbrannt, aber es waren immer noch genug übrig, um ihn völlig zu bedecken. Er versuchte sie abzuschütteln, doch am Ende bissen sie ihn zu Tode. Sie befreiten die Prinzessin und brachten sie sicher zurück in den Palast. Aus Dankbarkeit wollte der König dem Retter seine Tochter zur Frau geben, doch der lehnte ab. Das Einzige was er forderte, war, dass man keine Jagd mehr auf sein Volk machen durfte. Und so heiratete die Prinzessin eines Tages einen stattlichen Prinzen und lebte glücklich mit ihm, bis an das Ende ihrer Tage.“

 

 

Nuron wartete darauf, dass die Prinzessin etwas sagte, doch sie schwieg. Er blieb ruhig sitzen, beobachtete wie Staubpartikel glitzernd in den Strahlen des Sonnenlichtes tanzten, die den Raum in einen warmen Goldton tauchten.

Vater will, dass wir bald in den Palast zurückkehren, weil er eine wichtige Nachricht erhalten hat“, murmelte sie leise. „Demnächst möchte sich ein Heiratskandidat für mich vorstellen.“

Vor Schreck verschlug es ihm den Atem. Unbeholfen setzte er sich auf und sah sie an.

Wenn ich Vater richtig verstanden habe, ist er der Thronerbe des Königshauses Remial. Er ist schon zwölf Jahre alt!“

Kichernd erhob sich Meria und klopfte den Staub von ihrem Kleid.

Kannst du dir vorstellen, dass ich irgendwann heiraten soll? Nach der Meinung meiner Gouvernante bin ich eher eine Plage, denn eine Zierde. Aus mir wird niemals eine wahre Königin.“

Nuron sprang auf und ergriff ihre Hände.

Für mich wirst du immer die einzige Königin sein, der ich dienen will.“

Lächelnd sah sie zu ihm auf.

Und du wirst immer mein Rattenkönig sein.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen kindlich feuchten Kuss auf die Wange. Angewidert verzog er das Gesicht und wischte sich mit dem Ärmel über die Stelle. Er war froh darüber, dass sein Freund Darolf nicht gesehen hatte, wie die Prinzessin ihn küsste. Ansonsten wäre er über Wochen damit aufgezogen worden, denn in seinem Alter zählte man fast schon als Mann und ließ sich nicht einfach so überrumpeln. Meria fuhr herum und deutete auf die Treppe.

Hast du auch die Stimmen gehört?“

Nuron lauschte in die Stille hinein. Ganz leise, fast nur die Ahnung eines Geräusches, hörte er ein Murmeln, als ob viele Menschen durcheinander reden würde. Die Prinzessin griff nach seiner Hand und drückte sie nervös.

Das sind bestimmt diejenigen, die nach dir suchen“, flüsterte er tonlos. „Sie kommen, um dich zu holen!“

Kichernd legte Meria ihre Hand vor den Mund.

Das klingt unheimlich. Oder überfallen uns die Kobolde, um mich zu entführen?“

Bestimmt ist es nur deine Gouvernante, aber der Unterschied zu einem Kobold wäre nicht so groß.“

Dann sollten wir uns besser versteckt halten.“

Nein. Die Erwachsenen haben lange genug nach dir gesucht. Lass uns besser gehen, bevor man richtig böse auf uns wird.“

Verdrossen zog Meria einen Schmollmund, doch Nuron zog sie sachte in Richtung der Treppe. Vorsichtig führte er sie an der einen Hand haltend über die Stufen, während sie mit der anderen ihr Kleid zusammenraffte, um nicht auf den Saum zu treten.

 

 

Das Knirschen der Steine klang bedrohlich in seinen Ohren. Er spürte die Bewegung des Grundes unter seinen Füßen. Mit einem lauten Knall zerbrach die Stufe unter ihm und riss ihn mit sich in die Tiefe. Blind griff er um sich, mehr aus einem Instinkt heraus, denn nach einem Halt suchend. Meria schrie auf. Seine Finger krallten sich in die Bruchkante des Steines. Sein Brustkorb prallte gegen einen morschen Stützbalken. Er keuchte auf, als der Druck ihm die Luft aus den Lungen presste. Unter ihm stürzten die Brocken klatschend in das Wasser des Sees, mit dem der Sockel gefüllt war. Er versuchte sich hochzuziehen, doch sein eigenes Gewicht zog schwer wie Blei an ihm. Meria kniete sich nieder und griff nach seinem Arm. Schmerzhaft gruben ihre Nägel sich in seine Haut. Nuron rang nach Atem. Seine Füße strampelten in der Luft. Unter ihm war nichts als Schwärze. Er hörte das leise Gluckern des Wassers. Lange würde er sich nicht mehr halten können. Er spürte bereits, wie seine Kräfte schwanden. Wenn er abstürzte, würde er ertrinken noch bevor man ihm zu Hilfe kommen konnte. Verzweifelt und wütend schrie er auf. Er stieß mit den Stiefelspitzen gegen die groben Quader, aus denen die Wände gemauert waren. Seine Sohlen glitten über die Steine. Plötzlich fand er Halt. Es war nur ein winziger Vorsprung, nicht mehr als eine Unebenheit im Gestein. Er stützte seine Zehenspitzen darauf und stemmte sich hoch. Seiner Bewegung folgend zerrte Meria ihn zu sich heran. Nuron streckte seinen freien Arm aus und bekam einen Spalt zwischen den Steinplatten zu fassen. Keuchend zog er sich weiter vorwärts, die Treppe hinauf. Mit einem letzten Ruck befreite er sich aus dem Loch. Er stürzte mit der Prinzessin auf die Stufen. Ihm schwindelte vor Anstrengung. Einen Herzschlag lang wurde ihm schwarz vor Augen.

 

 

Dann lachte er auf. Seine eigene Stimme klang zittrig und matt, doch ihn durchströmte eine Erleichterung, die ihn die Schmerzen in seinen Gliedern vergessen ließ. Meria schluchzte atemlos. Sie schlang ihre Arme um ihn und presste ihre heiße, tränennasse Wange gegen seine.

Nuron!“

Immer wieder flüsterte sie seinen Namen. Er befreite sich aus ihrer Umarmung und erhob sich.

Komm, Meria. Wir müssen jetzt schnell gehen, bevor wirklich noch ein Unglück geschieht.“

Verwirrt nickte sie und stellte sich neben ihn. Nuron musterte das Loch, wo die Stufe fehlte. Es war zu groß, um es mit einem Schritt zu überqueren. Er atmete tief durch und sprang beherzt auf die andere Seite. Seine Ledersohlen fanden keinen Halt und er glitt aus. Mit den Armen rudernd stolperte er zwei Treppen hinab, konnte sich aber abfangen, bevor er stürzte. Sein Atem ging im Gleichtakt mit seinem pochenden Herzen. Er stützte sich an der Wand ab und tastete sich vorsichtig zu Meria vor.

Auffordernd streckte er ihr seine Hand entgegen.

Spring!“

Sie wich zurück und schüttelte ängstlich den Kopf.

Ich treue mich nicht.“ Sie schniefte lautstark. „Ich habe Angst.“

Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sagte er beinahe heiter. „Es ist nur ein ganz kleiner Sprung und ich fange dich auf.“

Verängstigt starrte sie in das Loch zu ihren Füßen und zögerte.

Mach schon!“, rief er energischer.

Sie raffte ihre Röcke zusammen und sprang mit einem quieckenden Aufschrei auf ihn zu. Nuron fing sie auf, als sie gegen ihn prallte. Ihr Schwung riss ihn beinahe von den Füßen. Erfüllt von Furcht schnappte sie nach Luft. Ihre Beine zitterten vor Anspannung, während der Rest ihres Körpers wie erstarrt in seinen Armen lag.

Ich habe es geschafft!“, presste sie heiser hervor.

Siehst du? Es war halb so schlimm.“

Er klopfte sich den Staub von den Kleidern, wobei er trotz des Halbdunkels ahnte, dass es sinnlos war. Der Schmutz bedeckte ihn von Kopf bis Fuss und in seinem rechten Hemdsärmel klaffte ein Riss. Es war unmöglich, sich aus dieser Situation herauszureden, sobald man sie sehen würde. Trotzdem versuchte er seine Kleidung so gut es ging zu richten. In ihm herrschte immer noch das Hochgefühl eines überstandenen Abenteuers. Die Gefahr, in der er sich befunden hatte, war vergessen über die Gewissheit, dass er seine Angst überwunden hatte. Übermütig griff er nach Merias Hand und zog sie mit sich die Stufen hinab, auf die Tür zu.

 

 

Das helle Sonnenlicht blendete ihn, als er ins Freie trat. Er kniff die Augen bis auf schmale Schlitze zusammen und beschattete sie. Er schluckte schwer, als er im Burghof nicht nur seine Eltern und Merias Gouvernante entdeckte, sondern dazu auch noch das Königspaar des Hauses Sabray. Abrupt blieb er stehen. Meria stieß gegen ihn. Wortlos deutete er hinab zu der kleinen Gruppe. Der Druck ihrer Hand wurde fester. Er drehte sich zu ihr um und sah sie unsicher an. Ihr Anblick war erschreckend. Das schöne, blaue Kleid war zerknittert und mit Staub bedeckt, der sogar in ihrem lockigen Haar saß. Die Spuren von Tränen zogen sich in Furchen durch den Schmutz auf ihrem herzförmigen Gesicht. Sie war bleich, wie eine frisch gekalkte Wand und ihre Augen leicht gerötet.

Was sagen wir nur unseren Eltern?“, wimmerte sie.

Er spürte ihre Furcht, die sich wie ein feiner Strom auf ihn zu übertragen schien.

Wir erklären ihnen, dass ich dich überredet habe in den Turm zu gehen und das die Treppe eingestürzt ist.“

Das wäre gelogen! Es hätte nicht viel gefehlt und du wärst gestorben, nur weil ich meinen Kopf durchsetzen musste.“

Sie ließ ihn los und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Haltlos brach sie in Tränen aus.

Du hättest tot sein können! Und es wäre allein meine Schuld gewesen.“

Nuron umarmte sie und strich ihr tröstend über das wirre Haar.

Mir ist doch nichts passiert. Ich glaube, ich habe nur ein paar blaue Flecken“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich nehme alles auf mich, damit du nicht bestraft wirst.“

 

 

Nuron!“

Er zuckte zusammen, als er die Stimme seines Vaters erkannte. Der unverhohlene Zorn, der in ihr lag, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Nacken. Zögernd ging er auf die Treppe zu, die hinab in den Burghof führte. Hinter seinem Rücken hielt er immer noch Merias Hand, deren Finger sich fest mit seinen verhakt hatten. Die Blicke der Erwachsenen folgten jeder Bewegung der Kinder. Nuron wäre es lieber gewesen, wenn man laut mit ihm geschimpft hätte. Das wäre leichter zu ertragen gewesen, als das Schweigen in dem er mit jeder Stufe, die er hinabstieg, wie in einem Nebel zu versinken schien. In den Augen seiner Eltern, Gustav und Marianna Dornell, sah er die Enttäuschung über sein offensichtliches Fehlverhalten. Es schmerzte ihn mehr, als die blauen Flecken und Schrammen, die er von seinem Sturz davongetragen hatte. Mit gesenkten Köpfen gingen er und Meria auf die Erwachsenen zu. Die Gouvernante der Prinzessin schnaubte wütend, während sein eigener Vater energisch auf ihn zuschritt.

 

 

Wo hast du dich nur herumgetrieben? Deine Kleidung ist ganz schmutzig. Das Hemd ist auch noch zerrissen!“ Sichtlich aufgebracht ergriff Gustav Dornell Nurons Arm und zog ihn beiseite. „Was hast du dir dabei gedacht?“

Es war meine Idee, den Turm zu besteigen“, murmelte er dumpf.

Was ist dort geschehen?“

Als wir zurück in den Burghof gehen wollten, ist eine der Stufen eingebrochen.“

Der Griff um seinen Arm wurde härter. Nuron biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien. Die Stimme seines Vaters senkte sich zu einem bedrohlichen Grollen.

Ich habe dir unzählige Male erklärt, dass es gefährlich ist und es besonders euch Kindern untersagt ist, den Turm zu betreten.“

Ja, Vater … Ich werde es nie wieder tun“, stammelte er.

Du hast die Prinzessin in Gefahr gebracht. Sie hätte sterben können! Ist dir überhaupt klar, was du angerichtet hast?“

Tränen brannten in seinen Augen und nahmen ihm die Sicht. Er versuchte sie zurückzudrängen, doch da liefen sie bereits heiß über seine Wangen. Verzweifelt zog er den Kopf zwischen die Schultern und duckte sich zusammen.

Es ist eine große Ehre für unsere Familie, dass man dich als Spielgefährte für die Prinzessin ausgewählt hat. Ich dachte, du hättest begriffen, welches Privileg es für dich ist. Dein Verhalten ist beschämend. Ich bin enttäuscht von dir.“

Hilfesuchen huschte sein Blick hinüber zu Meria, die aufgeregt mit ihren Eltern sprach. Nuron hatte sie nur vor einer Strafe schützen wollen, weil sie sich ihren Pflichten entzogen hatte und davongelaufen war. Doch letztendlich hatte er alles nur noch schlimmer gemacht. Beinahe wünschte er sich, dass er sich gar nicht erst auf die Suche nach der Prinzessin gemacht hätte. Sein Vater schüttelte ihn mit einem harten Ruck.

Du hättest sie töten können!“, zischte er.

Es tut mir leid“, wimmerte Nuron.

Das nützt dir jetzt auch nichts mehr.“

 

 

Meria stürzte auf sie zu und drängte sich zwischen Vater und Sohn. Dornell ließ Nurons Arm mit einer Plötzlichkeit los, die den Jungen taumeln ließ. Die Prinzessin schob sich vor ihn, als ob sie ihn beschützen wollte.

Es war allein meine Schuld!“, rief sie aufgeregt. „Ich habe ihn überredet, den Turm zu betreten. Er hat versucht, mich davon abzuhalten, aber ich habe mich geweigert und bin hinauf gegestiegen. Nuron hat nur auf mich aufgepasst, damit mir nichts geschieht. Bitte, Herr Donell, sie müssen mir glauben!“

Das Königspaar trat auf sie zu, ihnen voraus Merias Gouvernante. Sie ergriff die Hand des Mädchens und versuchte sie von Nuron fortzuziehen. Verzweifelt klammerte sie sich an seinen Hals und blickte flehentlich zu ihren Eltern auf. König Volkart strich sich über seinen mit grauen Strähnen durchzogenen Vollbart, um sein Schmunzeln zu verbergen. Er räusperte sich umständlich.

Meine Tochter, die Prinzessin und Thronerbin behauptet, dass du unter Einsatz deines eigenen Lebens das Ihrige beschützt hast?“

 

 

Nuron schluckt schwer. Sein Körper wurde starr vor Angst. Er schob Meria beiseite, die sich nur widerwillig von ihm löste, und beschrieb eine hastige Verbeugung, die wie abgehackt wirkte.

Majestät, vergebt mir ...“, stammelte er.

Seine Stimme versagte, brach mitten im Satz ab. Die Kehle schnürte sich ihm zu, so dass er glaubte, kaum atmen zu können. Der Blick des Königs ruhte erbarmungslos auf ihm. Nuron musste sich dazu zwingen, zu ihm aufzublicken. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf, als König Volkart mit strenger Miene eine Augenbraue hochzog. Einzig in seinen Augen schien ein belustigtes Funkeln zu leuchten.

Ich wollte doch nur, dass Meria mir folgt“, flüsterte er.

Wie dein Vater bereits sagte, ist der alte Wehrturm ein brüchiges Gemäuer“, fuhr Volkart fort. „Du weißt, so wie jeder andere auch, es ist verboten ihn zu betreten, da er einzustürzen droht.“

Nuron nickte so hastig, dass die Halswirbel in seinem Nacken knackten. Tränen stiegen ihm in die Augen. Tapfer blinzelte er sie fort.

Ich habe versucht, sie davon abzubringen.“

Die Prinzessin ist deinen Anweisungen nicht gefolgt? Du sagst, dass die zukünftige Königin von Braedun sich den Befehlen eines Dieners widersetzt hat?“

Gesagt habe ich es nicht“, entfuhr es Nuron. Die Worte schlüpften aus seinem Mund, noch bevor er überlegen konnte, was er da von sich gab.

Königin Odana legte ihrem Gemahl die Hand auf den Arm.

Es reicht jetzt, Volkart. Siehst du nicht, dass der arme Junge beinahe stirbt vor Angst?“, raunte sie ihm tadelnd zu.

Der König brummte zustimmend. Er legte seine Hand auf Nurons Schulter. Die Berührung gab dem Jungen neuen Mut und er blickte verstohlen auf.

Ich bin froh, dass dir nichts Ernsteres passiert ist, als ein paar Schrammen“, sagte der König milder. „Mit dir haben wir eine gute Wahl getroffen. Du bist unserer Tochter ein loyaler und zuverlässiger Freund geworden. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Das wissen die Königin und ich sehr zu schätzen und sind stolz darauf, dich zu unserem Hofstaat zählen zu dürfen.“

Er lächelte ihm ermutigend zu. Zögernd erwiderte Nuron das Lächeln. Das der König ihn als Teil des Hofstaates bezeichnet hatte erfüllte ihn mit Stolz. Sein unerwartete Lob beruhigte ihn und sein rasender Herzschlag senkte sich, doch ein Teil des Unbehagens wollte nicht vergehen, lastete wie ein Gewicht auf seinem Gewissen. Er hatte Meria nur beschützen wollen und was er selbst als ein Versagen betrachtete, würde er sich niemals verzeihen.